Gesundheit der Frau: Was ist Gender Medizin?
29.08.2023 | Artikel
In der Medizin gilt der männliche Körper als Norm – nicht nur in Lehrbüchern, sondern auch in der Medikamentenforschung. Wir werfen einen Blick darauf, welche Auswirkungen diese Datenlücke auf die Gesundheit von Frauen hat, und wieso von Gender Medizin alle profitieren.
Weißer Mann, 35 Jahre, 80 Kilo, das war der Mustermann, das Standardmodell für klinische Untersuchungen.
Univ. Prof.in Dr.in Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender Medizin an der Medizinischen Universität Wien
Der Gender Data Gap und seine Folgen
Medikamente wurden lange Zeit hauptsächlich an Männern erforscht. Bei vielen medizinischen Studien dient auch heute noch ein Mann mit durchschnittlicher Größe und durchschnittlichem Gewicht als Maßstab. Viele Krankheitssymptome werden hauptsächlich am männlichen Organismus beschrieben. Weil über Frauen viel weniger Forschungsdaten als über Männer vorliegen, werden viele Erkrankungen bei Frauen auch heute noch häufig später erkannt. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Herzinfarkt. Während starke Schmerzen in Brust, Hals und im linken Arm als klassische Symptome gelten, erleben Frauen stattdessen häufig auch Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit, Schwindel und unspezifische Rückenschmerzen. Laut einer Studie in der Fachzeitschrift „The Lancet“ gibt es aber auch bei vielen anderen chronischen Krankheiten wie Krebs-, Lungen- und Nierenerkrankungen, Alzheimer oder Typ-2-Diabetes deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Der Herzinfarkt wird gerne als eindrückliches Beispiel genommen: Wenn der Arzt oder die Ärztin den Unterschied der Symptome zwischen Mann und Frau nicht beachtet, stirbt ein Mensch.
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek, Gründungspräsidentin der Deutschen und der Internationalen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin
Medikamente zeigen bei Frauen unter Umständen nicht die optimale Wirkung, weil sie vom weiblichen Organismus anders aufgenommen, verteilt, verstoffwechselt und ausgeschieden werden. Eine Tablette braucht für den Weg durch den Körper einer Frau – vom Mund durch Speiseröhre, Magen und Darm – doppelt so lange wie durch den eines Mannes. In der Leber, wo der aufgenommene Wirkstoff verarbeitet wird, werden verschiedene Stoffwechselenzyme unterschiedlich stark produziert. Auch der hormonelle Zyklus von Frauen sowie die unterschiedliche Verteilung von Körperfett spielt eine Rolle. Schaut man auf einen Beipackzettel, findet man allerdings selten Dosierungsangaben, die das alles berücksichtigen. Aber nicht nur Frauen leiden unter dem Gender Data Gap in der Medizin. So werden zum Beispiel Depressionen bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern. Aus einem Artikel des deutschen Ärzteblatts geht hervor, dass es dafür unterschiedliche Gründe gibt. Einerseits geben viele Männer wohl immer noch weniger gerne zu, an psychischen Problemen zu leiden. Andererseits tendieren viele Ärzt_innen dazu, bei ihnen eher körperliche Beschwerden zu vermuten. Der Fachbereich der Gender Medizin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Medizin besser zu erforschen mit dem Ziel, eine bestmögliche medizinische Versorgung für alle zu ermöglichen.
Gender Medizin betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Bei den Frauen herrscht aber der größte Aufholbedarf. Warum? Weil die ganze Medizin patriarchal strukturiert war und der Mann im Mittelpunkt stand.
Univ. Prof.in Dr.in Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender Medizin an der Medizinischen Universität Wien
Was ist Gender Medizin?
In Diskussionen sorgt der Begriff Gender oft schnell für erhitzte Gemüter. In der Medizin ist die Beschäftigung damit jedoch ein wichtiger Ansatz, der, wie die Studien zeigen, nicht nur über Gesundheit und Krankheit, sondern im Ernstfall auch über Leben und Tod entscheiden kann. Trotzdem ist Gender Medizin oder geschlechtersensible Medizin ein relativ neues Thema in Wissenschaft und Forschung. Sie beschäftigt sich aber nicht nur mit der Frage, inwiefern Medizin und Gesundheit vom Geschlecht abhängig sind. Auch Verhalten gegenüber Ärzt_innen wird erforscht. Denn die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden noch zusätzlich verstärkt durch Gender, also das gesellschaftlich und kulturell definierte Bild von dem, was einen Mann und was eine Frau ausmacht. Es beeinflusst, ob wir zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, wie wir uns ernähren, ob wir rauchen und ob wir Sport treiben. Und es sorgt dafür, dass Frauen und Männer von Ärzt_innen unterschiedlich behandelt werden.
Männer und Frauen unterscheiden sich biologisch aufgrund der unterschiedlichen Geschlechtschromosomen und der Sexualhormone, sowie aufgrund unterschiedlicher psychosozialer Faktoren, wie Geschlechter-Unterschiede in Rollenbildern, des Verhaltens und Lebensstils, Bildung, Sozialstatus, kultureller Einflüsse.
Univ. Prof.in Dr.in Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender Medizin an der Medizinischen Universität Wien
Schritte in die richtige Richtung
Eine gleich gute medizinische Versorgung für alle bedeutet nicht automatisch eine identische Versorgung von Männern und Frauen. Um die richtigen Diagnosen und Behandlungen für alle zu ermöglichen, braucht es nicht nur ein Umdenken in der Forschung, sondern auch eine Sensibilisierung von Ärzt_innen für das Thema. Seit 2022 ist eine EU-Verordnung in Kraft, die vorschreibt, dass bei klinischen Studien eine repräsentative Geschlechter- und Altersverteilung gegeben sein muss. Dabei sollen jedoch nicht automatisch 50% Männern und 50% Frauen herangezogen werden. Vielmehr sollen sich Studien zu neuen Medikamenten daran orientieren, wer in erster Linie damit behandelt werden soll. Mittlerweile steht die Beschäftigung mit den Fragen der Gender Medizin auch auf den meisten Studienplänen angehender Mediziner_innen. Die Österreichische Akademie der Ärzte vergibt außerdem im Rahmen einer Weiterbildung das ÖAK-Diplom Gender Medicine für Allgemeinmediziner_innen und Fachärzt_innen aller Sonderfächer. Mit diesen Maßnahmen sind wichtige Schritte in eine faire, gleichberechtigte und gesunde Zukunft für alle, unabhängig vom Geschlecht, gesetzt.
Die Gender Medizin ist erst dann angekommen, wenn sie in der Praxis gelebt wird und die einzelne Patientin, der einzelne Patient davon profitieren.
Univ. Prof.in Dr.in Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender Medizin an der Medizinischen Universität Wien